Wie verändert die Digitalisierung den Alltag von Konzernvorständen in den kommenden 15 Jahren?

Dezember 30th, 2014 | 1 comment

Die Frage, „Wie verändert die Digitalisierung den Alltag von Konzernvorständen in den kommenden 15 Jahren?“, zählte zu einer der drei Essay-Aufgaben, die den WettbewerberInnen beim jüngsten „CEO of the future“ Planspiel von der Unternehmensberatung McKinsey gestellt wurden. Im Folgenden werden einige „Digitalisierungserwartungen“ skizziert, die an die Rolle von Vorständen herangetragen werden.

1) Durch „die Digitalisierung“ wird der Einsatz digitaler Medien und Technologien zunächst zum Thema von Vorstandsentscheidungen. „Digitalisierung“ zwingt Organisationen dazu, sich mit sich selbst beschäftigen – insbesondere die eigenen Prioritäten, Strukturen und Routinen zu reflektieren. Durch die Möglichkeit, digitale Komunikationstechnologien in nahezu allen Unternehmensbereichen und Einheiten einsetzen zu können, stellt sich die Frage, welche Dienstwege, Regeln und welche MitarbeiterInnen im Unternehmen digital „unterstützt“ oder ersetzt werden sollen. Der Hierarchie-Spitze obliegt hier die Entscheidungsautonomie darüber zu entscheiden, Was genau an anderer Stelle durch andere Mittel entschieden werden soll. Die operativen Entscheidungen über das Wie verbleiben gleichwohl an den nachgelagerten Stellen (vgl. Luhmann 1964; Schwarting 2008, 2014).

Angesichts der damit verbundenen technologischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Veränderungen lässt sich eine Differenzierung von Stellen-Kompetenzen ableiten. Im Wesentlichen markieren dabei zwei Arten von „Jobs“ die Ränder dieser Veränderungen. Organisationssoziologisch gesprochen lassen sich hier einerseits Stellen unterscheiden, die von einer hohen Entscheidungsautomation geprägt sind. Das betrifft vor allem ausführende Tätigkeiten, z.B. in der Fertigung und im Vertrieb. Daneben gibt es „Jobs“, die eine hohe Entscheidungsautonomie verlangen. Mit Stellen, die eine Entscheidungsautonomie beanspruchen, meine ich Aufgaben, die eine hohe Abstraktionsleistung und Kognitionskapazitäten beim Entscheiden darüber erfordern, was für eine Organisation als entscheidungsfähig erachtet werden soll, und wie dieses „Was“ für welche Stellen in organisatorisches Handeln übersetzt werden kann (vgl. Schwarting 2014, 2015). Gerade in der Antizipation und Reflexion dieser Stellendifferenzierung besteht meinem Eindruck nach der oben genannte Wandel im Alltag von Konzernvorständen. Die Herausforderung liegt bei diesen Stellen weniger im Sammeln, Speichern oder Aufbereiten von Daten als in der zeitnahen Abschätzung, welche Daten überhaupt die Umwelt einer Organisation „sinnvoll“ modellieren und welche Auswirkungen die dabei entworfenen Modelle für unterschiedliche Geschäftsfelder und Unternehmensbereiche haben können. Die IBM Liquid Studie zeigt beispielsweise, dass durch Digitalisierung ein projektorientierter Einsatz und eine flexible Steuerung von Personal und Ressourcen möglich sind.

2) Im Kampf der Unternehmen um die besten Talente werden Vorstände dabei nicht mehr allein an ihrer fachlichen Expertise gemessen, sondern auch an der ihnen zugerechneteten „Visibilität“, „Persönlichkeit“ sowie ihrem „Führungsverständnis“. Mehr noch als von anderen Mitgliedern wird von Konzernvorständen erwartet, dass sie ihre Kompetenz öffentlich darstellen. Diese „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (Luhmann 1974) liegt unter zunehmenden „Digitalisierungserwartungen“ beispielsweise darin, neue Verbreitungsmedien zu nutzen und sich hinsichtlich der Nutzung dieser zu positionieren.

3) Drittens – und mit den genannten Veränderungen verbunden – werden Vorstände und ihre Entscheidungen in der unternehmensinternen wie -externen Öffentlichkeit transparenter und kritischer beurteilt. Die massenmediale Aufmerksamkeit und insbesondere Internetkommunikation solcher Entscheidungen trägt dazu bei, dass sich die Spitzen von Konzernen zunehmend der Beobachtung Dritter aussetzen müssen – z.B. der Beobachtung durch Kunden oder Lieferanten. Die Kommunikation über digitale Verbreitungsmedien ist weitgehend schriftbasiert und an ein unpersönliches, anonymes Publikum adressiert. Eine solche Kommunikation ist im Vergleich zu direkter Face-to-Face-Kommunikation affiner für die Äußerung von „Kritik“ und „Widerspruch“. Zwischen der Face-to-Face Kommunikation und Schriftkommunikation besteht nämlich ein struktureller Unterschied, der Folgen auf die Thematisierung von Konflikten hat, wie der Soziologie Niklas Luhmann formuliert (1984: 488ff.): Während Kritik und Konflikte (im Sinne eines kommunizierten „Neins“ bzw. Negierens) in der Face-to-Face Interaktion tendenziell „klein gehalten“ werden – weil dies allein die physische Anwesenheit und die Einhaltung von Takt gebietet – ist die Kommunikation von Widerspruch in der Moderne, und insbesondere in der Kommunikation über neue (Website, Twitter, facebook, LinkedIn, etc.) und alte Verbreitungsmedien (Buch, Zeitung, Prospekt, Flugblatt), voraussetzungsloser geworden.

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Durch die Möglichkeit des Einsatzes von digitalen Technologien wird ihre Nicht-Nutzung zum Risiko. Konzernstrukturen und Vorstandsentscheidungen sind unter den Bedingungen ihrer Änderbarkeit zunehmend der Reflektion und Kritik ausgesetzt. Sie stehen vor der Herausforderung Stabilität und Wandel nicht nur darstellen, sondern auch herstellen zu können. Im Vergleich zu anderen Unternehmen sind Konzerne stark hierarchisch organisiert und von recht vielen formalen Regeln der Aufgabenerledigung geprägt. Eine formale Anpassung an Umwelterwartungen verlangt viele (Folge-)Entscheidungen. Änderungen in der Formalstruktur einer Organisation fallen damit recht zeitintensiv aus. Während Konzerne zudem über eine eigene Marken-Infrastruktur, Standards, Massenproduktionen sowie hohes Kapital und Personalressourcen verfügen, bieten Startups angesichts ihrer vergleichsweise weniger formalen – aber nicht zwingend weniger informalen – Hierarchien und Entscheidungsregeln den Konzernen marktspezifische Produktinnovationen an. Zur Lösung dieses „Dilemmas“ bieten sich „flexible“ Formen der Beteiligung oder der Projektkooperation mit „Start-ups“ an, deren Organisationsstrukturen genau diametral ausgeprägt sind. Mit Projektkooperationen und Beteiligungen kombinieren Unternehmen interne Formen der „exploitation“ mit externen Formen der „exploration“ (March 1991). Durch einen Kombination von „beiden Welten“ antworten Konzerne damit auf das Problem, dass sie selbst nur relativ langsam auf Umweltveränderungen reagieren können.

Literatur

Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.

Luhmann, Niklas (1974): Professionelle Arbeit. Bielefeld: unveröff. Manuskript.

Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

March, James (1991): Exploration and Exploitation in Organizational Learning. Organization Science, 2(1), 71-87.

Schwarting, Rena (2008): Ein Kopf muss rollen. Wie Organisationen ihre Strukturen schmerzlos ändern. In: Sozialtheoristen 2008 (6). URL: http://sozialtheoristen.de/?p=15.

Schwarting, Rena (2014): Hochfrequenzhandel zwischen Entscheidungsautomation und Entscheidungsautonomie. In: Apelt, Maja; Senge, Konstanze (eds.). Organisation und Unsicherheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 159-174. URL: http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-19237-6_10.

Kaufmann, Matthias (2016): Die neue Lässigkeit im Büro. So freundlich ist das Du gar nicht. In: KARRIERE SPIEGEL vom 02.08.2016. URL: http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/krawatte-und-duzen-lockere-buero-etikette-fuehrt-zu-problemen-a-1104583.html.

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